Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Mario Vargas Llosa: Tanten können zauberhaft sein
Suhrkamp Verlag, gebunden und als Taschenbuch
»Tante Julia trug ein blaues Kleid, weiße Schuhe, war geschminkt und beim Friseur gewesen; sie lachte laut und freiheraus und hatte eine raue Stimme und freche Augen. Erst allmählich fiel mir auf, dass sie eine attraktive Frau war.«
Diese Entdeckung macht, auf den zweiten Blick zumindest, der junge Nachrichtenjournalist Mario aus Lima, dessen Tante – die Schwester der Frau seines Onkels – nach gescheiterter Ehe sich bei seinen Eltern einquartiert und je länger, je mehr dem jungen Mann mit ihrer Lebensfreude und Sinnlichkeit den Kopf verdreht.
Beide sind anfangs überrascht, dass es sie trotz Altersunterschied so sehr zueinander treibt, und weil man fürs erste eh nicht an eine gemeinsame Zukunft glaubt, lebt man die Liebelei der Gegenwart in stiller, aber nicht ungebrochener Heimlichkeit. Freilich: die Gefühle werden ernst, und Marios entsetzte Familie rüstet zur Gegenwehr gegen den aufkommenden Heiratswunsch.
In großer Erzählfreude und breitem Panorama brachte Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa in »Tante Julia und der Schreibkünstler« die, wie er selbst sagt, weitgehend autobiographische Geschichte der Liebe des achtzehnjährigen Mario mit seiner 32jährigen Tante Julia zu Papier.
Der »Schreibkünstler« des Titels ist allerdings keineswegs er selbst – auch wenn er sich damals bereits als Autor erprobt und vom literarischen Leben in Paris träumt -, sondern der begnadet-exzentrische Schriftsteller Pedro Camacho, der voller Emphase und überzeugt von den künstlerischen Möglichkeiten dieser Form bei jenem Rundfunksender, für den Mario arbeitet, in immensem Arbeitspensum sämtliche Hörspiele schreibt, die Quotenhits seiner Zeit.
Genau genommen bekommt der Leser mit diesem Roman »two in one«: Zum einen die Liebesgeschichte, zum anderen – mit diesem Erzählstrang kapitelweise alternierend, eine Sammlung von Storys, die auf den Hörspielserien Camachos basieren und Helden haben, die allesamt so fünfzig, adlernasig, breitstirnig, von aufrechtem Charakter und gütigem Wesen sind, wie ihr Autor sich selbst sieht. Durch dieses Wechselspiel gewinnen beide Teile, und dass diese Storys durchaus reißerische Motive beinhalten und sich gerne des feinen, unterschätzten Prinzips des Cliffhangers bedienen, erhöht den Reiz der Lektüre, denn Llosa wandelt souverän auf der Grenze zwischen augenzwinkernder Ironie und echter Bewunderung für das dramatische Vergnügen.
Vor allem ist »Tante Julia und der Schreibkünstler«, Mitte der 70er Jahre geschrieben und bei uns vor einigen Jahren in glänzender Neuübersetzung von Thomas Brovot erschienen, ein Buch der ungezügelten Erzählfreude, voller humoristischer Passagen, verspielt, lebensnah, schwungvoll und großartig zu lesen.
Mitreißend gelungen ist übrigens auch eine Hörspieladaption dieses Romans von DRS 2 aus dem Jahr 2002, die bei uns als 10-CD-Box im Hörverlag erschienen ist. Unter der Regie von Claude Pierre Salmony brillieren André Jung, Herlinde Latzko und Christoph Bantzer.
Michael Klein