Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Max Frisch: Antwort aus der Stille
Suhrkamp Verlag, Taschenbuch
Gelegentlich, wenn ich gerade mehrere Neuerscheinungen angelesen und mangels Interesses beiseite gelegt habe, frage ich mich, ob ich durch die immensen Lektüren meines Lebens womöglich überkritisch geworden bin. Als veritabler Probierstein erweist sich dann, zu einem der Früh- oder Nebenwerke (mithin einem, das als weniger bedeutend gilt) von einem meiner dauergeschätzten Schriftsteller zu greifen – wie macht es sich im Vergleich zu den vorhergehenden Lektüren?
Als anlässlich von Max Frischs 60. Geburtstag eine Ausgabe seiner gesammelten Werke zusammengestellt wurde, blieb die lange Erzählung »Antwort aus der Stille« auf Wunsch des Autors außen vor. Sie ist eines seiner Frühwerke, erstmals 1937 erschienen – da war er 26 Jahre alt. 18 Jahre nach Frischs Tod wurde das seinerzeit schon lange vergriffene Buch wiederaufgelegt, und so ist es heute noch leicht zugänglich, z.B. als Suhrkamp-Taschenbuchausgabe für 8 Euro. Allerdings liegt die Frage natürlich nahe, ob eine solche posthume Neuveröffentlichung als im Sinne des Autors zu werten ist?
Die Frage ist angesichts der Lektüre leichter zu beantworten, als man zunächst denken sollte. Erstens wird von Verlagsseite auf den gerade geschilderten Umstand hingewiesen – damit bleibt der Wunsch des Autors im Raum. Zweitens fällt es nicht schwer, die Unvollkommenheiten in Stil und Komposition auszumachen, die einem noch unausgereiften Schriftsteller unterlaufen. Drittens, und das ist entscheidend, verlangte die Qualität der Erzählung unbedingt nach dieser Veröffentlichung.
Max Frisch ist in ihr zwangsläufig noch nicht auf der Höhe seines Könnens – und das wird ihn, selbstkritisch, wie er war, geärgert haben. Andererseits ist »Antwort aus der Stille« bereits völlig unverkennbar ein Werk aus seiner Hand, die Motive seines späteren Werks vorausnehmend, stark in den Figuren, über weite Strecken mitreißend im Stil, der knappst und präzise Lebensverhältnisse plastisch werden lässt, dazu ein klarer Blick auf die großen Fragen des Lebens, nach Identität und der Möglichkeit des bewusst zu wählenden Lebensentwurfs.
Im Zentrum steht der Leutnant und Lehrer Balz Leuthold, der an seinem 30. Geburtstag etwas Großes vollbringen will. Schon immer hat er geglaubt, zu Bedeutendem berufen zu sein, hat das Alltagsleben der durchschnittlichen Welt als fade und ungenügend abgelehnt, hat ein Werk im Sinn, oder eine Tat, so genau weiß er es nicht. Und jetzt geht er auf die 30 zu und wird nervös und ungeduldig – er lebt wie alle anderen, Durchbruch, Erfolg oder Heldentum verzögern sich bedenklich, die Sorge wächst, sie könnten ganz ausbleiben.
Getrieben von einer Mischung aus Geltungswillen und der Angst, das Leben, das jeder nur einmal hat, in der Banalität und mit Halbheiten zu vergeuden, fasst er einen waghalsigen Entschluss: Einen unbezwinglich scheinenden Berggipfel will er als erster ersteigen. Während seiner Vorbereitungen zum Aufstieg bandelt er mit Irene an, einem Gast auf einer Berghütte; und zu seinem Alltagsleben, das er hinter sich lassen will, gehört seine Verlobte Barbara, die er im Streit verlassen hat und die ihm nun nachreist. Drei Figuren, die im Lauf der folgenden Ereignisse in Fragen nach ihrer Haltung zu sich selbst, zum jeweils anderen und zur Grundausrichtung ihres Lebens gezwungen werden.
Über achtzig Jahre alt ist diese Erzählung, aber bis auf Winzigkeiten liest sie sich überraschend zeitgemäß, unverjährt im Entwurf, überzeugend in der Schilderung der Konflikte, übrigens auch spannend. Wirklich, man wünscht, dies wäre tatsächlich das aktuelle Buch eines heutigen jungen Autors, auf dessen weitere Werke man sich würde freuen können. Wer aber die modernen Klassiker Frischs wie »Stiller«, »Homo faber« oder »Montauk« noch nicht gelesen haben sollte, hat es freilich besser und ja noch jede Menge hochlohnenden Lesestoff vor sich.
Michael Klein