Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Gottfried Keller: Das Sinngedicht
Diverse Ausgaben
Schandbarerweise werden ganze Schülergenerationen im völlig unpassenden Alter mit Gottfried Keller gequält. Wer sich vom Schock erholt und in späterer Zeit Zugang zu ihm sucht, entdeckt erfreut: Der Mann kann unsagbar gut erzählen, und bei genauerem Hinsehen – ganz und gar unverstaubt. Obendrein dieser liebevolle Blick für Frauen, für ihren Liebreiz – und mit welcher Leichtigkeit er das `rüberbringt!
Eines seiner schönsten Bücher ist »Das Sinngedicht«, kein rasend begeisternder Titel, gewiss, aber dahinter verbergen sich lauter glückende und nichtglückende Liebesgeschichten, die munter und flott und mit blitzgescheitem Augenzwinkern erzählt sind.
Ausgangspunkt ist ein im Verstauben begriffener Wissenschaftler, der jäh von der Midlife Crisis gepackt wird und entsetzt bemerkt, dass ihm etwas fehlt im Leben: die Liebe. Und sofort stürzt er sich aufs Pferd und reitet in die Welt hinaus, um sich mit Neugier und den guten Dingen des Lebens zugetan unter weiblichen Wesen zu tummeln.
Hochvergnüglich und erfrischend – und wer Feuer fängt, lese gleich den »Landvogt von Greifensee« hinterher, das ist auch so ein abschreckender Titel und auch so ein tolles Buch dahinter.
Gottfried Keller und die Liebe – in seinem Leben war das übrigens eine Chronik kleiner Tragödien. In regelmäßigen Abständen verliebte er sich wild und ungestüm, und nie mit glücklichem Ende. Wenn mal wieder eine einsam-einseitige Anbetung jäh in Abfuhr und Zurückgestoßenwerden gemündet war, pflegte er sich zu besaufen, wahllos Menschen anzugiften und sich hernach von Sinnen zu prügeln – von solch sympathischen Charakterzügen hat uns der Deutschunterricht auch nichts erzählt, oder?
Michael Klein