Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Hans Christian Andersen: Nur ein Spielmann
S. Fischer Verlag, gebunden
Hans Christian Andersen (1805-1875) ist zwar mit seinen Märchen nachhaltig berühmt geworden – die beliebte Vokabel »unsterblich« bietet sich trotz nicht von der Hand zu weisender Ungenauigkeit an -, er selbst aber hatte stets gehofft, etwas – vermeintlich – viel Größeres, Bedeutenderes zu schaffen: im Roman oder für das Theater. Das sollte nicht unter den Tisch fallen. Und Andersens dritter, 1837 erschienener Roman »Nur ein Spielmann«, der im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde und ihn hierzulande noch vor seinen Märchen weithin bekannt machte, liest sich verblüffend angenehm und ist voller Schönheiten, die wir auch an seinen Märchen lieben.
Es ist ein Liebesroman, der sich als konsequenter Nicht-Liebesroman entpuppt. Die Hauptfigur Christian ist ein physisch fragiler, mit einer überstarken, lebhaften Phantasie ausgestatteter junger Mann aus dem dänischen Svendborg, der hochbegabt das Geigenspiel erlernt und zum Künstler wie geboren zu sein scheint. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft, freilich aus weitaus wohlhabenderer, höher gestellter Familie, wohnt die ein Jahr jüngere Naomi, deren Zauber Christian schon bei ihrer ersten Begegnung verfällt. Naomi ist anziehend, selbstbewusst, attraktiv, dominant, für Christian ein Wesen wie aus einer unbekannten, berauschenden Feenwelt. Er ist tief beeindruckt, und Naomi wird ihm fortan zum unauslöschlichen Liebesideal – der schwärmerischen Begeisterung Don Quijotes für seine Dulcinea nicht ganz unähnlich.
Denn Christians dauerhafte Liebe ist eine fixe Idee, nicht realitätsbezogen. Naomi – ungefordert von ihrem Schicksal, von ihrem Wohlstand gelangweilt – bleibt ein oberflächliches, nicht sehr mitfühlendes Ding, das mit Christians romantischen Träumereien ebenso wenig anfangen könnte wie er mit ihrem ungesättigten und deshalb ziemlich wahllosem Lebenshunger.
Andersen erzählt von Christians einseitiger, schwärmerischer Liebe, von seinem Verkanntwerden als Musiker und von Naomis wilden, orientierungslosen Streifzügen in die weite Welt: Es ist eine Chronik des logischen, beständigen Verfehlens, die in der zweiten Hälfte mit immer klüger ausgespielter Ironie ausgebreitet wird.
Und weil Andersen spannungssichernde Kunstgriffe nicht verschmäht, gar mit düsterem Suspense überrascht und die realistischen Schilderungen um geschickt eingewebte, lebendige Märchen- und Sagenmotive zu ergänzen weiß, folgt ihm der Leser bereitwillig und zeitweise gar mit äußerster Neugier.
Die Welt in Andersens Roman ist übrigens bereits erstaunlich klein. Fern ist 1837 noch die Großkonjunktur des Begriffs Globalisierung, und doch trifft sich die überschaubar kleine Gruppe handelnder Personen in immer wechselnder Konstellation ganz und gar zufällig mal in Wien oder Italien oder Paris wieder, als läge es entlang des Wanderwegs rund um Svendborg. Was nichts daran ändert, dass »Nur ein Spielmann« nicht zuletzt neugierig auf die anderen Romane Andersens machen darf, fünf weitere hat er geschrieben.
MICHAEL KLEIN