Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Ketil Bjørnstad: Der Fluß
Insel Verlag, gebunden und als Suhrkamp Taschenbuch
Der erste Teil von Ketil Bjørnstads Aksel-Vinding-Trilogie, der Roman »Vindings Spiel«, macht es seinen Lesern nicht leicht: Eine gute Hundertschaft lediglich halbgelungener Seiten ist zu überstehen, bevor Bjørnstad seinen Stoff richtig in den Griff bekommt. Dann aber nimmt das Buch richtig Fahrt auf und entlohnt durch dichte und angenehm lebensernste weitere zweihundertfünfzig Seiten. Großartig. Es geht aber noch großartiger. In der Fortsetzung »Der Fluss« ist Bjørnstad von Beginn an in Hochform.
Norwegen im Sommer 1970. Der junge, hochbegabte Klavierstudent Aksel Vinding, mindestens in Grundzügen ein Alter Ego Bjørnstads, leidet unter dem Tod seiner Mutter, dem nachfolgenden Zerfall seiner Familie und nicht minder unter dem Tod der von ihm geliebten Freundin Anja Skoog, die an Magersucht gestorben ist.
Zwei schicksalhafte Zufälle wollen es nun, dass Aksel sich unvermutet und dauerhaft im Haus von Anjas Mutter Marianne Skoog einfindet, die Anjas Zimmer vermietet und ihr in Aussehen und Verhalten verblüffend ähnelt. Was Aksel zunehmend durcheinanderbringt: »Es ist Marianne Skoog, die den Weg herunterkommt, im grünen Anorak, verwaschenen Jeans und braunen, altmodischen Gummistiefeln. Auf zwanzig Meter Entfernung gleicht sie aufs Haar ihrer Tochter. Dann tritt sie gleichsam aus ihrer Jugend heraus, geht vorsichtig in meine Richtung, aber ohne mich zu sehen. Mit jedem Schritt wird sie älter, verliert aber nicht an Schönheit. Nur die Details werden deutlicher. Und ich weiß nicht, ob es das Dämmerlicht ist, das sie verzaubert, oder ob es meine Gefühle sind, die sich danach sehnen, die Lücke zu füllen. Ich verspüre einen Stich. Bald wird der Mond aufgehen. Ja, bald kommen komplizierte Nächte, denke ich. Aber ich bin innerlich voller Jubel.«
Zwei Hauptthemen hat dieser Roman. Das eine ist Aksel Vindings Grundfrage, wie er sein Leben gestalten soll. Er will Klaviervirtuose werden, gewiss, aber das Ausmaß an Askese und Konzentration, das es verlangt, zu den Besten der Besten zu gehören, ist ihm zugleich fragwürdig. Wie viel Lebensverzicht ist es wert, Erfolg zu haben? Hat seine Freundin Rebecca Frost recht, die ihm rät, die Freuden des Lebens nicht zu vernachlässigen? Die selbst die Ambitionen aufgegeben hat, weil sie weiß, dass sie lieber mittelmäßig und glücklich als Elite und getrieben ist?
Und da ist die ewige Lockung der Frauen, das zweite Grundthema in Aksel Vindings Bildungsgeschichte. Rebecca Frost, Freundin seit Jahren und prächtiger Kumpeltyp, liebt ihn und er sie irgendwie auch, aber zusammenkommen können sie nicht. Und da ist eben vor allem Anjas Mutter, der toten Tochter in Aussehen und Verhalten so frappant ähnlich, und im täglichen Zusammenleben – Aksel als Untermieter – ist die Versuchung, sich immer näherzukommen, allgegenwärtig.
Aus diesen Grundfragen und Spannungsverhältnissen, gepaart mit einem souveränen, realitätsgesättigten Stil, bezieht der Roman seine Kraft und seinen Sog. Nichts ist ohne Zwiespältigkeit in diesem Buch, mindestens so sehr wie um die Freuden des Lebens geht es um seine Schattenseiten, um Tod, innere Verwirrung, um das Verarbeiten von Trauer, um die Frage nach der Haltung zum Leben.
Und obendrein liest sich das auch noch spannend! Mit 18 Jahren, erzählt uns Aksel alias Ketil Bjørnstad, habe er, weil er sich noch so unerwachsen gefühlt habe, die großen Romane von Dostojewski und Tolstoj gelesen. Das ist eine exzellente Schule und erklärt mit, warum Bjørnstad hier ein so starkes Buch gelungen ist.
Die Kenntnis des Vorgängers ist übrigens nicht Vorbedingung für die Lektüre, weil sich die Zusammenhänge erschließen lassen und Bjørnstad hier und da geschickt kurze Reprisen einbaut. Man beraubt sich dann allerdings der überaus lohnenden Lektüre von »Vindings Spiel«.
Michael Klein