Mario Schneider – Tourist

Glanz und Elend des Touristendaseins

Mario Schneider: Tourist

Mitteldeutscher Verlag, gebunden

Vielleicht gibt es keinen besseren Zeitpunkt für das Erscheinen dieses Fotobandes als den derzeitigen, in dem uns das, was die Bilder zeigen, vertraut und zugleich in weite Ferne gerückt zu sein scheint. »Tourist« heißt er, und sein Entree ist so gelungen wie der ganze Band: Auf dem Titel sehen wir den staunenden Blick zweier junger Damen angesichts eines verblüffend Imposanten (außerhalb des Bildes), auf der Rückseite beschäftigen sich im nebligen Venedig drei Touristenpaare mit sich und ihrer Selbstinszenierung für die eigene Kamera. Zwei Fotos, die ideal das Typische mit dem Besonderen verbinden, dabei vergnüglich sind und mit ihrer motivlichen Bandbreite die richtigen Erwartungen aufs Innere dieses Buchs wecken. Während Menschen ferne Welten entdecken, entdecken Mario Schneiders Fotografien wiederum sie, Protagonisten einer Sehnsucht, eines Erlebnishungers, einer Neugier, auch Opfer von Erwartungen, Darsteller in Selbstinszenierungen, ein Massentypus, aber in unfassbar vielen individuellen Ausprägungen.

Mario Schneider, Bildband "Tourist", Cover

In einer ganzen Hundertschaft origineller Abbildungen begegnen wir Momenten der Ausgelassenheit, Freude, Irritation, Leere, Müdigkeit, Verwunderung, Verblüffung, der Überdrüssigkeit, auch Momenten der Pose, witzig, traurig, vielgestaltig, immer menschlich. Mal sind es Sommerfreuden, mal Winterfreuden, es geht in Stadtlandschaften, schwindelnde Höhen oder Wüsten, eben noch Berlin, jetzt Paris oder Venedig. Die Situationen sind verspielt, kurios, rührend, absurd, grotesk, häufig menschliche Komödie, mit präzisen, aber auch wohlwollenden Augen betrachtet. Viele Fotos erzählen ganze Geschichten oder lassen auf mögliche Hintergründe schließen. Da ist der freudlose Blick in die Handykamera, als sei der ersehnte Urlaub aus Gründen, über die wir spekulieren können, lediglich eine trotzige Pflichtübung. Da sind Gesten oder Distanzen, die Bände sprechen. Da erahnen wir mögliche Handlungssequenzen, die uns überraschen oder ungemein vergnüglich sind.

Etliche der Fotos erzählen mögliche Geschichten

Und gar zu oft gehen die Blicke des modernen Touristen fehl: Sie suchen nicht das Original, sondern das Abbild. Das Handy, die Fotokamera, die Videokamera – man reckt und streckt sich, um ans oder ins rechte Bild zu kommen. Das Ich im Vorder-, das Motiv im Hintergrund – und doch ist es genau umgekehrt, bleibt das Ich der Statist und das Motiv der Hauptdarsteller. Je länger man die Fotos im Zusammenhang betrachtet, desto stärker öffnen sich die Reflektionsräume. Die Bilder werden ergänzt durch drei kleine Prosa-Erzählungen (von Jule Reckow, Mario Schneider und Maike Wetzel), die auf eigenem, andersfarbigem Papier gedruckt sind und mit Motiven nachfolgender Fotos zu korrespondieren scheinen, sowie einem Nachwort von Maike Wetzel, das die Atmosphären der Bilder im eigenen Stil der Autorin spiegelt. »Wir spielen ein schönes Leben. Wir sind nur zu Besuch«, heißt es darin. Und an anderer Stelle: »Wir rennen unserem Selfiestick hinterher, als wäre er eine Wünschelrute, die uns zu neuen Goldadern führt.«

Mario Schneider, Bildband "Tourist" Foto 2

Nicht inszeniert und doch eine perfekte Bildkomposition

An Mario Schneiders Fotos ist nichts gestellt, nichts inszeniert. Und doch wirken sie wohldurchdacht komponiert und perfekt austariert. Das ist, zum einen, der Lohn des ebenso genauen wie geduldigen Blicks Schneiders, der fein beobachtet, ohne je aufdringlich zu sein, der Komik und Tragik einfängt, ohne seine Foto-Protagonisten im Mindesten preiszugeben, ein Blick, der übrigens auch seine Dokumentarfilme (u. a. »Heinz und Fred«, »Akt«, »Uta«) auszeichnet. Zum anderen ist es das Ergebnis einer Auswahl aus Fotos, die im Lauf von zwei Jahrzehnten entstanden sind. Obendrein lockt eine wohldurchdachte Gestaltung, angefangen beim Vorsatzpapier, das in Optik und Haptik an den Bezug einer Sonnenliege erinnert – eine durchweg durchdacht konzipierte Zusammenstellung in toller Ausstattung, ein bis in jedes Detail mit Liebe gestaltetes Buch. In diesem Zusammenhang sei auch der erfrischend humorvolle und originelle Schlusspunkt erwähnt: Ein Wesen blickt ruhig, besonnen, würdevoll, unaufgeregt und ohne Handy oder Kamera aufs schiffbefahrene Meer. Nanu? Ort: der Felsen von Gibraltar. Es ist allerdings kein Tourist. Es ist – ein Äffchen! Es wohnt da.

MICHAEL KLEIN

Über Jackson

Michael Klein, geboren 1960, Studium der Philosophie, Germanistik und Publizistik in Münster, arbeitet als Autor, Übersetzer und Journalist für Zeitschriften, Rundfunk und Verlage.
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