Einer meiner literarischen Helden, der Dichter Reiner Kunze, wird heute 85 Jahre alt. Ein guter Grund für ein Geburtstagsporträt.
Hier ist der erste Teil.
Er liebt die Stille, die innere Sammlung und wahrt den befremdeten Blick auf all die Dinge, die unser Zusammenleben nicht vertiefen, nicht klüger, verständnisvoller, gerechter machen, sondern oberflächlicher, hektischer, egoistischer, verständnisärmer.
Reiner Kunze ist einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwartsliteratur – gerade eben ist sein neuer Gedichtband »die stunde mit dir selbst« erschienen –, und auch seine Prosa ist voller Klarheit und Poesie. Seine Bücher sind mittlerweile in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, erscheinen beispielsweise auch in Japan und Korea, und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis. Sein Werk ist in mancherlei Hinsicht vom Zeitgeist – oder präziser: von Erscheinungen des Zeitungeistes – gerne weit entfernt. Für manches in unserer Gesellschaft gilt, was Kunze in einem Gedicht einmal knapp so beschreibt: »Im Leerlauf / Vollgas.«
In Kunzes Werk dominieren Werte, die ständig in Gefahr sind, ins Altmodische abzugleiten: Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Naturverbundenheit, Stille, innere Einkehr, das Maß. Und Kunzes Bücher suchen, was sie selbst sind und was wir in unserer Welt zunehmend und mitunter verblüffend leichtfertig in Reservate drängen: Schönheit, die es zu bewahren gilt, Schönheit in der Natur und in der Kunst. Idyllisierend ist Kunzes Werk freilich nie. Nur ist es der Essenz des Lebens nahe.
Seine Kindheit und Jugend sind von materieller Armut und den einfachen Verhältnissen geprägt, aus denen der 1933 in Oelsnitz (im Erzgebirge) als Sohn eines Bergmanns Geborene kommt.
»Meiner kindheit liehen ihre farben«, heißt es in einem seiner Gedichte, »kohle, gras und himmel / Unter dieser trikolore trat ich an, / ein hungerflüchter, süchtig / nach schönem.«
Er wächst auf in der DDR, und als dem Mangel gewöhnten Arbeitersohn eröffnet wird, dass er die Oberschule besuchen und studieren können wird, ist seine Dankbarkeit groß. Doch schon im Lauf der 50er Jahre offenbart sich Kunze der dogmatische Charakter des Kommunismus und das Repressive eines jedes eigene Denken entmündigenden und alles Private misstrauisch beargwöhnenden Staats. Und er erlebt den massiven Ausgrenzungsmechanismus, der jeden trifft, der beginnt, kritische Fragen zu stellen.
Reiner Kunze schreibt, Gedichte vor allem, aber auch Geschichten für Kinder, Übersetzungen und Nachdichtungen. Doch in die von der »Staatsmacht der DDR« geforderte Linientreue willigt er nie ein. Als 1968 die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschieren, ist das für Kunze die endgültige Gewissheit, nicht mehr auf eine ernstzunehmende Verbesserung der politischen Verhältnisse in der DDR hoffen zu können. Und eine strenge Zensur blickt auf jede seiner Zeilen mit pedantischen Argusaugen.
Seine kritischen Gedichtbände »Sensible Wege« und »Zimmerlautstärke« und das Kinderbuch »Der Löwe Leopold« können nur noch im Westen erscheinen, ebenso wie 1976 das Prosabuch »Die wunderbaren Jahre«, das seiner überzeugenden literarischen Qualitäten und des Aufsehens seiner Folgen wegen zum Bestseller wird. Es erzählt in kurzen, sich in der Summe verdichtenden Texten von den wunderbaren Jahren der Jugend mit ihrer Freude, Aufbruchstimmung, Entdeckerlust – und ebenso von den Jahren, die der Wunder bar bleiben, von den Barrieren und Schranken, die der persönlichen Freiheit in der DDR gesetzt werden, von der Unterdrückung und Engstirnigkeit der Machthaber. Obwohl Kunzes Buch auch voller Humor und Lebendigkeit ist, ist es vor allem beklemmend.
Weil Kunze lakonisch und ohne jede Übertreibung die Absurditäten des Staates, in dem er lebt, auf den Punkt genau beschreibt, bleibt der hilflosen Staatsmacht nur noch eines: das bis ins Extrem gesteigerte Arsenal der Repression. Post- und Telefonkontrolle existieren bereits: jetzt werden er und seine Familie in ihrer Wohnung abgehört, selbst die Verwandten unter Stasi-Bewachung gestellt, eine landesweite Diffamierungskampagne angeordnet.
Kunze, der von einer seltenen, unkorrumpierbaren Geradlinigkeit und Wahrhaftigkeit ist, lässt sich nicht einschüchtern. Das DDR-Regime, das Widerspruch nicht duldet, berät noch schweres Geschütz. Doch die Angst vor der internationalen Aufmerksamkeit und vor der geahnten Peinlichkeit des Eingeständnisses lässt die Konsequenz mäßiger ausfallen: Wie zuvor im Falle Wolf Biermanns, der zwangsausgebürgert wird, signalisiert man Kunze, das Land zu verlassen. Im Eilverfahren wird die sogenannte Übersiedlung in die Bundesrepublik abgewickelt. Es soll schnell gehen. Am Aufsehen, das der Fall erregt, ändert das nichts.
Den Neuanfang im Westen wird Kunze als Befreiung erleben, seine Lyrik weitet sich. Dass es aber auch im Westen gilt, die Freiheit des Individuums und der Kunst zu verteidigen, davon wird im zweiten Teil dieses Geburtstagsporträts die Rede sein, der an dieser Stelle vor dem Wochenende am 25./26. August erscheint.
Heute im TV: Auch der MDR gratuliert Reiner Kunze zum Geburtstag und sendet um 23:05 Uhr ein halbstündiges Porträt.
Michael Klein