Hanjo Kesting: Schnee von gestern

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Schnee von gestern, zeitlos
Neue Berichte aus den Chroniken der Belesenheit

„Schnee von gestern“ heißt ein Buch von Hanjo Kesting, das vor anderthalb Jahren erschienen und inzwischen schon gar nicht mehr sein neuestes ist. Aber man kann ein Buch, das einen solchen Titel trägt, nicht besprechen, wenn es noch ganz frisch ist, nicht wahr? Das wäre ein Widerspruch.

Noch bevor der Leser mit der Lektüre beginnt, drängt sich ihm die Frage auf, warum das Buch ausgerechnet „Schnee von gestern“ heißen mag. Schließlich ist dies doch ein offenkundig kommerziell gewagter Titel. Landläufig verbinden wir mit der Formulierung „Schnee von gestern“ etwas Verjährtes, mithin unbedeutend Gewordenes, etwas, das für uns kein Interesse mehr besitzt, weil es einer dahingeschmolzenen Vergangenheit angehört, ohne Spuren hinterlassen zu haben. Und das gilt in einer heutigen Zeit, die zu Hektik, Rasanz und schwindelnd gesteigerter Halbwertszeit neigt, noch mehr. Zur allgemeinen Neugier auf die Texte dieses Buches gesellt sich also eine zusätzliche offene Frage, denn es gibt weder ein Vor- noch ein Nachwort, das den Titel erklären würde. Andererseits versteht Hanjo Kesting, einer der profundesten Literaturkenner dieses Landes, Sprache viel zu gut, als dass man eine Ungeschicklichkeit unterstellen könnte.

"Schnee von gestern" und die Buchkassetten "Erfahren, woher wir kommen"

„Schnee von gestern“ und die drei Buchkassetten „Erfahren, woher wir kommen“

Der Band ist 500 Seiten schwer und enthält eine Sammlung von Texten zur Literatur und Geistesgeschichte. Ein klarer Schwerpunkt liegt auf Erkundungszügen durch die deutsche und internationale Literatur seit dem Ende des II. Weltkriegs, als Beispiele seien Martin Walser, Siegfried Lenz, Alfred Andersch, Raymond Carver oder John Updike genannt. Daneben gibt es einige Ausflüge zu Klassikern wie Daniel Defoe, Friedrich Nietzsche oder James Joyce. Eine zusammenhängende Darstellung ist es nicht, sondern Grundzüge eines Gesamtbilds aus dem Geist einzelner Mosaiksteine, die in der Summe über sich hinausweisen. Zugleich ist das Buch eine Art umfangreiches Supplement zu Kestings großen Literaturübersichten, vor allem natürlich den neun Bänden seiner Gesamtschau zur Literatur- und Geistesgeschichte mit dem übergreifenden Titel „Erfahren, woher wir kommen“.

„Man muss die Gegenstände, über die man schreibt, lieben, wirklich lieben“, formuliert Kesting in einem kurzen Grund-Credo auf dem Buchrücken, „ohne die kritische Distanz dabei einzubüßen.“ Das ist ein entscheidender Punkt, der erklärt, warum sich seine Texte so spannend lesen: Sie strahlen die Begeisterung der Lektüre aus, die Grundbegeisterung für die Literatur, nicht ein einziger Satz, in dem Kesting sich über einen Autor oder ein Buch erhebt; die Eitelkeit eines bestimmten Kritikertypus ist ihm fremd. Und das Ausmaß der Liebe wird auch in den Texten in ihren Abstufungen sichtbar. Diejenigen über Erich Maria Remarque, Erich Kästner oder Erich Fried besitzen einen ganz anderen Schwung als einer über Christoph Martin Wieland, um die Ausnahme eines weniger gelungenen Textes zu nennen. Am Ende der Lektüre fühlt man sich bereichert, vor allem aber neugierig gemacht auf konkrete Bücher und darüber hinaus weitergehende Lektüren. Der „Schnee von gestern“ glitzert also noch – ein Naturwunder.

Was hat es mit dem Titel auf sich? Gewiss sind viele Anlässe der Texte von gestern: einstige Bücherneuerscheinungen, Todes- und Gedenktage. Angesichts der großen, zeitüberdauernden Linien, die sich in ihnen spiegeln, passt „Schnee von gestern“ als Metapher der Vergänglichkeit in diesem Buch am besten zu Kestings Sätzen über Literaturkritik, über ihr Wesen und die allmähliche Abnahme ihrer Bedeutung. In einer Würdigung des großen Kritikers und Rhetorikers Marcel Reich-Ranicki heißt es: „Die Literaturkritik ist zwar nicht völlig verschwunden, aber als strukturiertes und qualifiziertes Instrument löst sie sich zunehmend auf. Der Beruf wird zu einer Sache von Spezialisten mit nur noch geringer Relevanz für die breitere Öffentlichkeit. Man kann es allerorten beobachten. Ihre Majestät die Literatur ist [aber] auch weiterhin darauf angewiesen, dass einzelne Menschen sich in Ruhe auf Bücher einlassen, besser: auf Literatur. Denn nur wenig, was als Buch gedruckt wird, gehört im emphatischen Sinn zur Literatur.“ Was Kesting hier (ursprünglich im Rundfunk 2013) feststellte, ist im seither vergangenen Jahrzehnt weiter vorangeschritten. In diesem Sinne mag der Titel auch etwas Wehmütiges haben.

Nimmt man die Summe von Kestings Büchern, durchmessen sie ein ausgedehntes literarisches Universum, Bildungslektüre im allerbesten Sinn, nicht lehrbuchhaft, sondern spannend vermitteltes Wissen. „Schnee von gestern“ fügt sich harmonisch in Kestings weitere Werke ein, die in der Summe eine umfangreiche veritable Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen präsentieren, die sich von akademischen Werken darin unterscheidet, dass sie sich bei mindestens gleicher, aber allermeist höherer Substanz glänzend liest und den Bildungseffekt mit großer Unterhaltsamkeit kombiniert. „Delectare et prodesse“ (Erfreuen und Nützen) war ein kulturelles Leitbild der Lateiner, hier finden wir es für alle Literaturfreunde in Reinkultur.

Michael Klein

Hanjo Kesting: Schnee von gestern
Wehrhahn Verlag, Hannover, gebunden

Drei Fragen, die ich gerne beantwortet habe

Die folgenden drei Fragen wurden mir von Lara Schmidtchen vom Mitteldeutschen Verlag gestellt und über Facebook und Instagram gepostet. Besuchern meiner Website möchte ich die Fragen und Antworten natürlich nicht vorenthalten.

 

1. Als Herausgeber und Übersetzer decken Sie ein breites Themenfeld ab. Haben Sie ein Lieblingswerk oder eine*n Lieblingsautor*in?

Walter Scott, Chrystal Croftangrys Geschichte, CoverGroßartige Bücher gibt es zuhauf und Lieblingsautoren habe ich mindestens ein Dutzend. Aber wenn ich mich festlegen soll, dann ist es Albert Camus, dessen Denken, Schreiben und Stil mich seit je beeindruckt haben. Da Sie in Ihrer Frage zunächst die Übersetzertätigkeit erwähnen: Die Bücher, die ich übersetze, sind mir stets inhaltlich nahe, und man kann leicht erkennen, dass ich eine besondere Neigung zur schottischen Literatur habe, zu Scott, Stevenson oder Barrie. Im Moment erfreue ich mich an Texten von Charles Dickens, was ich in Bezug auf seine Romane und Erzählungen schon ein ganzes Leben lang tue. Aber es gäbe so viel mehr zu erwähnen, Stefan Zweigs zupackenden Stil, Dürrenmatt und Frisch, Erich Kästners bodenständige Gedichte oder die Lyrik von Reiner Kunze, die mir ein stetes Bezugssystem war. Ich bedaure die Kürze des Lebens schon deshalb, weil es viel mehr großartige Bücher gibt, als man in einem ganzen Leben, selbst wenn man 100 Jahre würde, lesen kann, und ich möchte sie alle lesen. Dostojewskis „Idiot“, Hugos „Elenden“, Dumas’ „Der Graf von Monte Christo“ und und und – an einzelnen Büchern, du meine Güte, was gab und gibt es da alles an Freuden!

 

2. Was fasziniert Sie am meisten an der Übersetzungsarbeit?

Am Anfang steht die Begeisterung für einen Text oder ein ganzes Buch, und gibt es dieses noch nicht auf Deutsch, finde ich sofort, dass es die Welt der Leser leicht zugänglich haben sollte. Die Arbeit an der Sprache erfreut enorm; natürlich frustriert sie auch ab und zu, wenn Passagen schwer zu verstehen oder nur zäh zu übersetzen sind, aber wenn es dann gelingt, ist die Freude umso größer. Zu den spannenden Erfahrungen gehört auch, wie sehr sich Texte bei wiederholtem Lesen und bei der Übersetzerarbeit verändern können. James M. Barrie liest sich in der Regel bei der ersten Lektüre munter, süffig und verspielt, aber je näher man in den Text gerät, desto stärker treten die melancholischen Unterströmungen zutage und ändern die Tönung des Texts zunehmend ins Dunklere.

 

3. Das neue Werk „Chrystal Croftangrys Geschichte“ erzählt von dem Werdegang eines Schriftstellers. Finden Sie Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und dem Helden?

Cover der italienischen Ausgabe von Michael Klein: Das weiße SchweigenNun ja, Chrystal Croftangry verjubelt in jungen Jahren das Vermögen seines Vaters und erfreut sich leichtlebiger Beziehungen zu Frauen. Zum Verjubeln von Vermögen fehlte mir die Gelegenheit, zu den leichtlebigen Abenteuern mit Frauen war ich nie der Typ. Verpasste Chancen. Der gereifte und ernste Croftangry gefällt mir weitaus besser. Er hat einen besonderen Sinn für Vergänglichkeit, was mir ebenfalls gefällt, und er nimmt seine Arbeit zugleich sehr ernst und spielerisch. Zudem beginnt er seine Schriftstellerlaufbahn erst spät, mit rund 60 Jahren, und das ist vielleicht gar kein schlechtes Alter für literarische Beginne oder, wie in meinem Fall, späte Fortsetzungen.

Christopher Ecker – Herr Oluf in Hunsum

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Christopher Ecker: Herr Oluf in Hunsum

MDV, 232 S., gebunden

Ecker furios

Gelegentlich ist es ja schwierig, in einer Kritik den distanzierten Tonfall der durchdachten Abwägung durchzuhalten, zum Beispiel bei diesem Buch. Einfach, weil es derart erstklassig erzählt. Rasant, intelligent, erfrischend dreist. Verzagt aber auch, passenderweise. Virtuos komponiert, souverän im Stil, kühn in den Perspektivenspielen. Verwirrt fragt man sich, ob die Fähigkeit zur Kritik temporär lahmgelegt ist, man sucht nach Fehlern: vergeblich. Man greift nach einem anderen Buch, das man unlängst gelangweilt beiseitelegte. Nein, das kritische Bewusstsein ist intakt, dieses Buch ist langweilig wie zuvor. Man sieht: der neue Ecker ist besorgniserregend gut.

Kunstprofessor Oluf Sattler steht zu Beginn des Romans mit beiden Beinen fest in einem ausgewachsenen Dilemma. Er hat im fernen Hunsum an der Nordsee einen für ein ganzes Institut ungemein wichtigen Vortrag zu halten (Stichwort: Fördergelder) und ist deswegen unverzichtbar und unmittelbar vor der Abreise stehend. Zeitgleich erkrankt daheim heftig fiebrig seine Ehefrau – samt Kleinkind neben ihr –, die er unversorgt alleinlassen muss, wenn er seiner Unverzichtbarkeit Folge leisten will.

Guter Rat ist unbezahlbar, weil schwer möglich. Keine Zeit, Dinge zu organisieren, Aufbruch ins Verderben oder Daheimbleiben ins Verderben die Möglichkeiten, die bleiben. Oluf Sattler vermag nicht abzusagen, also bricht er gewissensgeplagt auf und setzt sich einer Dreieinigkeit der Plagen aus: der nun überaus ungeliebten Fahrt und ihrem Vortrag, dem Kopfkino der unentwegten Besorgnisse und dem erbarmungslosen Schweigen des Handys. Denn Sattler ruft zuhause an, niemand hebt ab oder ruft zurück, und sein Handy quält ihn nach kurzer Zeit mit mordernstem Fortschritt in Form von wirren und fehlgehenden Sicherheitsabfragen und Captchas. In der Welt und abgeschnitten von den Liebsten, es erschüttert ihn bis in die Grundfesten.

Christopher Ecker, Herr Oluf in Hunsum, TitelDas ist furios und allgemeingültig beschrieben. Es geht schmerzlich und bitter zu in diesem Roman, die simple Banalität dessen ist ebenso plastisch geschildert, obendrein brandet mitreißender Humor auf. Passt das zusammen? Und wie. Inhaltlich ist dieser Roman zu seinen Vorgängern lange Zeit ein Winkelzug. Ecker liebt es, uns in Wirklichkeitszersetzungen und Realitätstücken zu führen, aber diesmal präsentiert er die Welt überwiegend so bodenständig, wie sie ein Protagonist zwischen bewusster, konzentrierter Erdung und Seelenpanik nur erleben kann – gespickt mit ironisch-satirischen Seitenhieben auf den Wissenschaftsbetrieb, französische Modephilosophen, die Freuden der Paartherapie oder Bemerkungen über Kunst und Kapitalismus. Eckers kühne Perspektivenbrechungen sind ebenso faszinierend wie die eingewirkten Binnengeschichten, deren allerbeste einen lange heiteren Frankreichurlaub schildert, der so schrecklich endet wie Sattlers aktuelle Fahrt.

Denn dem Unheil eines verkorksten Vortrags folgt Sattlers traumähnliche Irrfahrt durch unheimlich-heimisch-vertrautes Gelände voller Orientierungslosigkeit, inklusive Zusammentreffen mit „auf vulgäre Weise attraktiv“ aufgebrezelten Zwillingen und schließlich einer ländlich derb-rustikalen Mordszene, die auch dem Kriminalroman entsprungen sein könnte, den Sattler zu lesen begonnen hat. Dieses Finale des Buchs bleibt mit Sattlers direktem Erleben noch atmosphärisch-assoziativ verknüpft, Freuds Traumdeutungserkenntnisse liefern einen zusätzlichen Schlüssel, den Motivverschiebungen zu folgen. (Schon Eckers Vorgängerroman, „Die letzte Kränkung“, wies einen Bezug zu Freud auf.)

Der Schluss, in dem eine Tankstelle zum Schlachthaus wird und / oder der Protagonist überraschenden Ruhm und neues Glück mit einer jungen, sexy Künstlerin erlebt, oszilliert nach seiner kurzen Einleitung („Der Rest ist schnell erzählt“) zwischen Alp- und Wunschtraum. Wirklich überzeugend geht das Buch in seinem Schluss nicht auf. Nein, nein, um Missverständnisse gleich zu vermeiden: Natürlich schreibt Christopher Ecker keine Bücher, die in einem auch nur annähernd platten Sinn „aufgehen“ sollen. Aber auch in seinem Nichtaufgehen gibt es einen motivlichen Faden, der in „Herr Oluf in Hunsum“ bis kurz vor Ende des Romans stimmig bleibt, auch die grotesk-alptraumartigen Szenen haften atmosphärisch immer noch am inneren Geschehen. Doch die Auslassungen, die am Ende ins Düster-Existentielle oder Traumlösungs-Triviale münden, entfliehen dem Konflikt und wirken deshalb weniger virtuos. Über weite Strecken ist dies Eckers bester Roman; man hätte seinem Schwung noch ein meisterhaftes Finale gewünscht, dann wäre man aus dem Loben gar nicht mehr herausgekommen.

MICHAEL KLEIN

Carl Jonas Love Almquist – Die Woche mit Sara

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Carl Jonas Love Almquist: Die Woche mit Sara

Rororo, Taschenbuch

Wie angekündigt an dieser Stelle noch ein vierter Beitrag in der kleinen Reihe über die Liebe in klassisch gewordenen Novellen oder Kurzromanen, chronologisch gehen wir nach Joseph Conrads „Freya von den Sieben Inseln“ (1912), Henry Millers „Daisy Miller“ (1878) und Fjodor M. Dostojewskis „Weiße Nächte“ (1848) noch einmal ein knappes Jahrzehnt zurück und reisen im Geiste ins damalige Schweden.

Carl Jonas Love Almquist, Die Woche mit Sara, Titel

Titel der 2004 erschienenen gebundenen deutschen Ausgabe bei Kindler

Stockholm, an einem sonnigen Julitag in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ein Dampfer legt ab, und unter der zufälligen Reisegesellschaft finden sich ein junger, ehrgeiziger Unteroffizier und eine junge, unaufdringlich stolze Schöne, deren Wege sich nicht vollständig unabsichtlich immer wieder kreuzen, denn man hat ein vorsichtiges Auge aufeinander geworfen.

Die Reiseziele der beiden führen eigentlich in unterschiedliche Richtungen, doch als man sich anzunähern beginnt und sich unausgesprochen einige Verliebtheit breitmacht, entscheidet der Unteroffizier kurzerhand über seine Route neu und stellt sich Fragen nach seinem zukünftigen Glück. Doch die junge Schöne erweist sich als – insbesondere für ihre Zeit – verblüffend emanzipiert, und das wunderschön entwickelte Liebesgespinst mündet im letzten Drittel des Buchs in eine lebenskluge Diskussion über Sinn und Zweck der Ehe.

Der 1839 erschienene Kurzroman „Die Woche mit Sara“ von Carl Jonas Love Almquist (1793-1866) ist ein verblüffend modernes Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau und gegen die, wie Almquist es sieht, Zwänge der Ehe, die ein freiwillig gewähltes Zusammensein in einen Zustand des Muss überführe, der der Harmonie auf Dauer oft nicht gut tue. Liebe in Freiheit sei etwas anderes als bindende Verpflichtung zum Zusammenleben. Das liest sich für einen Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstaunlich kühn und durchaus klug, ist aber natürlich auch diskutabel und nicht alles, was Almquist darüber ausbreitet, ist frei von Beschönigung und Naivität. Zum besseren Verständnis sei deshalb angefügt, dass im Schweden seiner Zeit die Eheschließung noch mit der Entmündigung der Frau einherging, die dem Mann fortan unterstand.

Von den „Stützen der Gesellschaft“ seiner Zeit hatte Almquist keine hohe Meinung, und seine satirischen Porträts der „oberen Zehntausend“ oder derer, die gerne zu ihnen gehören wollen, lassen noch heute ob ihrer Charakterisierungen schmunzeln. Die bessere Gesellschaft hat sich dann freilich gerächt, dem Skandal eines Romans, in dessen Mittelpunkt eine Frau steht, die Sanftheit mit Selbständigkeit paart, folgte eine breite Rufmordkampagne, die den Autor unmöglich machen und ihn auch materiell in die Knie zwingen sollte. Natürlich ging Almquist nicht in die Knie, sondern ins Exil nach Amerika, später lebte er bis zu seinem Lebensende in Bremen. Der Roman, der seinerzeit solchen Aufruhr und solche Empörung verursachte, liest sich heute noch frisch und unverstaubt.

Michael Klein

 

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Fjodor M. Dostojewski: Weiße Nächte

Diverse Ausgaben

Nach Joseph Conrads „Freya von den Sieben Inseln“ (1912) und Henry Millers „Daisy Miller“ (1878) gehen wir in der kleinen Reihe über die Liebe in klassisch gewordenen Novellen oder Kurzromanen weitere 30 Jahre zurück. Und wir wechseln zugleich noch einmal den Schauplatz.

Fjodor M. Dostojewski 1847

Dostojewski zur Zeit, als er „Weiße Nächte“ schrieb (Porträt von Konstantin Alexandrowitsch Trutowski, 1847)

Ein heißer Sommer in St. Petersburg 1848. Die Stadt liegt halbverlassen; jeder, der es sich leisten kann, ist in die Sommerfrische abgereist. Ein kontaktscheuer, 26 Jahre alter angehender und erfolgloser Schriftsteller schlendert durch die Straßen, mit den Verhältnissen vertraut, doch ziellos, ungeschäftig, für sich bleibend. An diesem Abend wird er auf eine junge, hübsche Frau aufmerksam, die verloren an einem Kanalufer ins Wasser blickt. Nach langem Zögern spricht er sie an. Beide sind sie verschlossene Menschen, doch sobald sie sich gegenseitig ihre Scheuheit gestanden haben, empfinden sie rasch Zutrauen zueinander. Es scheint ihnen, als würden sie sich schon ewig kennen.

Nastenka – so heißt die junge Frau – erzählt dem jungen Schriftsteller ihren Kummer: Vor einem Jahr hat der Mann, den sie liebt, St. Petersburg verlassen (und gleichzeitig den Kontakt zu ihr abbrechen) müssen; in diesen Tagen – so haben sie es sich versprochen – soll er zurückkehren. Das Kanalufer ist der verabredete Treffpunkt. Wird er kommen?

Jeden Abend wartet Nastenka hier; und mit ihr alsbald der junge Dichter, der aufrichtig Anteil an ihr nimmt. Das Ausmaß dieses Anteils bereitet ihm aber zügig Probleme. Kein Zweifel, er beginnt sich in Nastenka bis über beide Ohren zu verlieben. Und Versuchungen treten an ihn heran: Soll er sich wünschen, dass der Fremde nicht käme? Soll er der manchmal zweifelnden Nastenka raten, nicht länger zu warten? Und als er begreift, dass er zwischen beiden zum Vermittler werden kann – soll er es gegen sein eigenes Interesse tun?

Dostojewskis Erzählung »Weiße Nächte« – die hellen, langen St. Petersburger Sommernächte sind gemeint, und die Lebenssituation des träumerischen, scheuen, jungen Schriftstellers ist der Dostojewskis zu jener Zeit sehr ähnlich – ist eine der unvergänglichen Liebesgeschichten der Weltliteratur und eine ideale Lektüre keineswegs nur für helle, lange Sommernächte. Sie ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, die schöne und unverstaubte Übersetzung von Hermann Röhl aus dem Jahr 1928 gibt es heute gebunden bei Anaconda bereits für 3.95 Euro.

Michael Klein

Henry James – Daisy Miller

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Henry James: Daisy Miller

Diverse Ausgaben

Im letzten Beitrag an dieser Stelle sind wir dem Scheitern einer Liebe in Joseph Conrads Langerzählung „Freya von den Sieben Inseln“ aus dem Jahr 1912 gefolgt, in diesem und zwei nachfolgenden Beiträgen gehen wir der Liebe in drei weiteren Novellen oder Kurzromanen nach, wobei wir uns chronologisch abwärts bewegen.

Henry James, Daisy Miller, TitelIn Vevey in der Schweiz lernt der in Genf studierende, siebenundzwanzigjährige Amerikaner Frederick Winterbourne die junge, schöne Landsmännin Daisy Miller kennen. An Geld fehlt es ihrer Familie nicht, freilich gehört sie zur feinen Gesellschaft nicht wirklich dazu, ohne Stand und erlauchte Verwandtschaft. Dass der Familienwohlstand erarbeitet wurde und nicht angeboren ist, ist selbstverständlich ein Makel, ein noch schlimmerer ist ihre unbekümmerte Art, sich in Gesellschaft mit Herren zu zeigen. Auch Winterbourne ist zwar in Daisy sogleich verschossen und von ihr eingenommen, doch plagen ihn eifersüchtige Gedanken, die er als Etikette-Beobachtungen tarnt. Gewiss, Daisy kann für ihn nicht mehr als ein „Flirt“ sein, aber sein Ego kränkt sich permanent an der Anwesenheit anderer und besonders eines bestimmten Herrn in ihrer Nähe. Ist sie einfach nur derart unschuldig, dass sie sich der Folgen für ihr Ansehen nicht bewusst ist? Oder ist sie so frei, keine Rücksicht auf die Denkweisen der sie umgebenden Gesellschaft zu nehmen? Oder ist sie, so schön und rein sie auch aussieht, hinter ihrer natürlichen Fassade vergnügungs- und gefallsüchtig und gerne auch mal wirklich lasterhaft?

Winterbourne grübelt über derlei Fragen, sucht nach dem passenden Etikett, und als er es tatsächlich gefunden zu haben glaubt, gerät er sogleich in neue Zweifel, die sich ihm nicht mehr auflösen werden, denn Daisy segnet nach einer Infektionskrankheit überraschend das Zeitliche.

Henry James ist in diesem 1878 geschriebenen Kurzroman in seinem Element, die Welt der feinen europäischen Gesellschaft und die sich in sie mischenden Amerikaner, die mit Biss ausgelebten oder verachteten Verhaltensabstufungen der Etikette, dazu die Bespiegelungen der Figuren untereinander sind geschickt ausgespielte Motive. Während Winterbourne Daisy auszumachen sucht und kein rechtes Bild von ihr gewinnt (während James es mehrmals in seinen Formulierungen andeutet), ist sein Abtaxieren der jungen Frau genau das, was ihn selbst definiert. Die Erzählung kommt lange vermeintlich luftig-leicht daher, ist aber komplex in ihren Möglichkeiten und mündet in den offenen Raum eines abrupten tragischen Schlusses.

Auf dem Titel dieser antiquarisch erworbenen Ausgabe blickt uns Cybill Shepherd an. Wie kommt das? Peter Bodganovich hat den Stoff 1974 verfilmt – kein leichtes Unterfangen, denn das Entscheidende besteht nicht in einem Handlungsgerüst, sondern in Atmosphären, Andeutungen und Zwischentönen, die präzise getroffen werden wollen –, und Shepherd spielte die Titelrolle. Obwohl der Film starke Momente besitzt, wird er der Vorlage leider nur halb gerecht. Vor allem die langen Passagen ihrer einseitig überdrehten Geschwätzigkeit ruinieren gerade das, was die literarische Vorlage geschickt in der Schwebe hält. Weder der poetische Zauber, der auf der Illusion balanciert, noch das gestrenge Gespinst der Etikette werden wirklich plastisch.

Dennoch muss man dem häufig verrissenen Film zugute halten, dass einzelne Szenen trefflich gelangen, auch wenn sie das Ganze nicht zu tragen vermögen. Dass Bogdanovich und / oder sein Drehbuchautor Frederic Raphael (die sich über der Arbeit zerstritten) nicht naiv an den Stoff herangingen, beweisen z.B. einige schöne, James hinzugefügte Detaileinfälle. Die erste Einstellung zeigt uns aus erhabener Höhe im Tiefparterre eines Luxushotels am frühen Morgen einen einsamen Arbeiter den Boden putzen – die Kamera blickt von oben auf ihn herab, so wie wenig später die feine Gesellschaft, die hier gastiert und deren einzige Lebensaufgabe darin besteht, im Luxus zu leben und sich dabei nicht allzu sehr zu langweilen.

Michael Klein

Joseph Conrad – Freya von den Sieben Inseln

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Joseph Conrad: Freya von den Sieben Inseln

Diverse Ausgaben

Joseph Conrad, Freya von den Sieben Inseln, TitelbildIn einem fernen Archipel der »östlichen Gewässer«, auf einer der »Sieben Inseln« lebt der Handelskapitän a. D. Nelson, genannt der »alte Nelson«, zusammen mit seiner schönen Tochter Freya auf einem Landstück, das er rechtmäßig gekauft hat und dessen er sich doch nicht wirklich sicher fühlt. Der alte Nelson hat seine Erfahrungen mit den Verwaltungen der Kolonialmächte gemacht und eine beinahe existenzielle Angst vor ihrer Willkür. Vor allem fürchtet er wie eine ständige Bedrohung die holländischen Behörden.

Wer die Romane und Novellen von Joseph Conrad (1857-1924, »Lord Jim«, »Herz der Finsternis«, »Nostromo«), des »größten Erzählers seiner Epoche«, wie Thomas Mann urteilte, kennt, weiß, dass in dieser Angst bereits der Keim einer Tragödie lauert. Freya liebt den tatkräftigen und in sie ebenfalls kreuzverliebten jungen Kapitän Jasper Allen, und ihrem Glück und gemeinsamen Seefahrertum auf Jaspers Brigg »Bonito« stünde gar nichts im Wege, gäbe es da nicht den holländischen Leutnant Heemskirk, Kommandant eines Kanonenboots.

Heemskirk ist böswillig, unbedeutend, farblos, aber dem Irrglauben verfallen, er habe Chancen bei Freya. Für den alten Nelson personifiziert er die ganze Allmacht der Behörden, und Heemskirk entgeht diese einschüchternde Wirkung auf Nelson keineswegs. Er beginnt, sie weidlich auszunutzen – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Conrad erzählt diese Geschichte, die 1912 als eine von drei langen Erzählungen in »Zwischen Land und See« erschien, mit ungeheurer Plastizität, dichter Atmosphäre und einer sich stetig steigernden Spannung. Gewiss, die Figuren bleiben ein wenig typenhaft und der erfahrene Leser hört hin und wieder ein leises Knirschen in der Konstruktion; wie so oft bei Conrad wird die Beleuchtung auch gelegentlich ins leicht Grelle gewendet. Aber das zentrale „Biedermann-und-die-Brandstifter“-Motiv ist überzeugend entwickelt: Das Verhängnis liegt im Versuch, mit dem Einnisten des dreisten Machtanspruchs Kompromisse eingehen zu wollen, statt ihm beizeiten die Stirn zu bieten – das ist zeitlos gültig.

Die Schauplätze, in der ruhigen See zwischen Borneo und Sumatra gelegen, kannte Conrad aus eigener Anschauung. Zwei Jahrzehnte lang war er zur See gefahren und durchkreuzte die betreffenden Gewässer zeitweise als Erster Steuermann eines Dampfers. Conrad hieß eigentlich Josef Konrad Korzeniowski, war ursprünglich Pole und erlernte die englische Sprache erst als Erwachsener – und wurde einer der bedeutendsten Autoren darin.

Michael Klein

Hanjo Kesting – Grundschriften der europäischen Kultur

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur

Wallstein Verlag, 3 Bände, gebunden

Diesmal gibt es die »Bücher, die sich wirklich lohnen« sozusagen im Multipack, denn es geht um drei dicke Bände mit zusammen 1.200 Seiten in Kassette und um 50 »Bücher, die sich wirklich lohnen«, die darin beschrieben werden. In Zeiten der Krise, in denen der Osterurlaub ausfallen muss, sind Reisen des Geistes durch Zeiten und Räume gewiss keine schlechte Alternative.

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, 3 Bände in Kassette, Wallstein Verlag

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, 3 Bände in Kassette

Aber der Reihe nach. Der Schriftsteller Hanjo Kesting begann vor Jahren eine Vortrags- und Lesereihe, die zu einer Erfolgsgeschichte und bis heute thematisch immer wieder ergänzt und erweitert wurde: »Grundschriften der europäischen Kultur: Erfahren, woher wir kommen«. Ursprünglich für einen überschaubaren Saal in Hamburg geplant, sprach sich die Reihe wie auch ihre Qualität äußerst zügig herum, war schließlich Termin für Termin binnen Stunden ausverkauft, wechselte in größere Säle, wurde zusätzlich in Hannover und Lübeck gehalten, und weil sich das Zuschauerinteresse immer noch ausweitete, bald obendrein auch in Bremen und Oldenburg, nebst Übertragung im Rundfunk.

Worum geht es? Und warum dieser Erfolg? Hanjo Kesting stellt bedeutende Bücher und Schriften unseres kulturellen Herkommens vor, zentrale Texte aus Literatur und Philosophie von der Antike über Mittelalter und Renaissance bis zur Neuzeit. »Der oft beschworene Bildungskanon existiert nicht mehr«, heißt es in der Einleitung. »Die Griechen nannten das kulturelle Gedächtnis Mnemosyne, das heißt Erinnerung, und was das bedeutet, geht aus dem Umstand hervor, dass Mnemosyne die Mutter der neun Musen ist und damit das Fundament aller kulturellen Aktivitäten. Die Kultur gründet sich nicht nur auf das Gedächtnis, sie ist selbst dieses Gedächtnis. Als solches ist sie der Schauplatz unserer Selbstverständigung. Wenn wir diesen Schauplatz verlassen, leben wir im Zustand der Selbstvergessenheit.«

Kesting führt uns infolgedessen ausgiebig auf diesen Schauplatz, an dem wir u. a. dem Gilgamesh-Epos, Homers »Odyssee«, Vergils »Aeneis«, Ovids »Metamorphosen«, dem »Nibelungenlied«, den »Artus«-Geschichten, Dantes »Göttlicher Komödie«, Shakespeares »Hamlet«, Voltaire, Rousseau und Kant begegnen, schließlich Goethes »Reinecke Fuchs«, Marx’ und Engels »Kommunistischem Manifest« oder Nietzsches »Ecce homo«. Die Texte zu den einzelnen Büchern sind jeweils etwa fünfzig Seiten lang und setzen uns in Kenntnis über Inhalt des Werks, Umstände seiner Entstehung, Aspekte ihrer unterschiedlichen Interpretierbarkeit, zeitgeschichtliche Bedeutung und Wirkung sowie ihre Perspektivlinien bis in unsere Zeit.

Ein bisschen gelingt hier die Quadratur des Kreises: Auf der einen Seite erhält der Leser einen Schnellkurs in entscheidende Entwicklungen der Literatur- und Geistesgeschichte, auf der anderen Seite sind die Darstellungen veritable, umfassende Einführungen, fundiert, punktgenau, facettenreich. Das liegt am Miteinander aus profundem Wissen, Gedrängtheit, Erzählfreude und Anschaulichkeit, das den Leser gleich ins Zentrum der Themen führt und ihm umständliche Umwege oder methodisch-akademische Abstraktheiten erspart.

Noch einen Grund gibt es, warum diese Einführungen so gelungen sind: Sie sind frei von falscher Ehrfurcht, Patina und Staub werden nicht verwechselt, der Bedeutung der Werke wegen nicht Halt gemacht vor der Benennung ihrer schwachen oder verjährten Seiten. Und in jedem dieser Texte berührt Kesting die Grundfrage, was uns diese Bücher heute bedeuten und in welchem Licht sie aus moderner Erkenntnis und aus dem Blickwinkel unserer Gesellschaft betrachtet stehen.

Kestings Texte sind auf diese Weise exzellente, spannende Neugier-Wecker, die betreffenden Bücher erstmals oder erneut zu lesen und in ihnen überraschende Entdeckungen zu machen. Alle drei Bände in Kassette kosten zusammen erfreulich günstige 34.90 Euro. Und wer sich vorab für eine repräsentative Kostprobe interessiert, findet sie hier zu Immanuel Kants Schrift „Was ist Aufklärung“.

Michael Klein

Max Frisch – Antwort aus der Stille

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Max Frisch: Antwort aus der Stille

Suhrkamp Verlag, Taschenbuch

Gelegentlich, wenn ich gerade mehrere Neuerscheinungen angelesen und mangels Interesses beiseite gelegt habe, frage ich mich, ob ich durch die immensen Lektüren meines Lebens womöglich überkritisch geworden bin. Als veritabler Probierstein erweist sich dann, zu einem der Früh- oder Nebenwerke (mithin einem, das als weniger bedeutend gilt) von einem meiner dauergeschätzten Schriftsteller zu greifen – wie macht es sich im Vergleich zu den vorhergehenden Lektüren?

Max Frisch, Antwort aus der Stille, Cover

Suhrkamp Taschenbuch, 8 Euro

Als anlässlich von Max Frischs 60. Geburtstag eine Ausgabe seiner gesammelten Werke zusammengestellt wurde, blieb die lange Erzählung »Antwort aus der Stille« auf Wunsch des Autors außen vor. Sie ist eines seiner Frühwerke, erstmals 1937 erschienen – da war er 26 Jahre alt. 18 Jahre nach Frischs Tod wurde das seinerzeit schon lange vergriffene Buch wiederaufgelegt, und so ist es heute noch leicht zugänglich, z.B. als Suhrkamp-Taschenbuchausgabe für 8 Euro. Allerdings liegt die Frage natürlich nahe, ob eine solche posthume Neuveröffentlichung als im Sinne des Autors zu werten ist?

Die Frage ist angesichts der Lektüre leichter zu beantworten, als man zunächst denken sollte. Erstens wird von Verlagsseite auf den gerade geschilderten Umstand hingewiesen – damit bleibt der Wunsch des Autors im Raum. Zweitens fällt es nicht schwer, die Unvollkommenheiten in Stil und Komposition auszumachen, die einem noch unausgereiften Schriftsteller unterlaufen. Drittens, und das ist entscheidend, verlangte die Qualität der Erzählung unbedingt nach dieser Veröffentlichung.

Max Frisch ist in ihr zwangsläufig noch nicht auf der Höhe seines Könnens – und das wird ihn, selbstkritisch, wie er war, geärgert haben. Andererseits ist »Antwort aus der Stille« bereits völlig unverkennbar ein Werk aus seiner Hand, die Motive seines späteren Werks vorausnehmend, stark in den Figuren, über weite Strecken mitreißend im Stil, der knappst und präzise Lebensverhältnisse plastisch werden lässt, dazu ein klarer Blick auf die großen Fragen des Lebens, nach Identität und der Möglichkeit des bewusst zu wählenden Lebensentwurfs.

Im Zentrum steht der Leutnant und Lehrer Balz Leuthold, der an seinem 30. Geburtstag etwas Großes vollbringen will. Schon immer hat er geglaubt, zu Bedeutendem berufen zu sein, hat das Alltagsleben der durchschnittlichen Welt als fade und ungenügend abgelehnt, hat ein Werk im Sinn, oder eine Tat, so genau weiß er es nicht. Und jetzt geht er auf die 30 zu und wird nervös und ungeduldig – er lebt wie alle anderen, Durchbruch, Erfolg oder Heldentum verzögern sich bedenklich, die Sorge wächst, sie könnten ganz ausbleiben.

Getrieben von einer Mischung aus Geltungswillen und der Angst, das Leben, das jeder nur einmal hat, in der Banalität und mit Halbheiten zu vergeuden, fasst er einen waghalsigen Entschluss: Einen unbezwinglich scheinenden Berggipfel will er als erster ersteigen. Während seiner Vorbereitungen zum Aufstieg bandelt er mit Irene an, einem Gast auf einer Berghütte; und zu seinem Alltagsleben, das er hinter sich lassen will, gehört seine Verlobte Barbara, die er im Streit verlassen hat und die ihm nun nachreist. Drei Figuren, die im Lauf der folgenden Ereignisse in Fragen nach ihrer Haltung zu sich selbst, zum jeweils anderen und zur Grundausrichtung ihres Lebens gezwungen werden.

Über achtzig Jahre alt ist diese Erzählung, aber bis auf Winzigkeiten liest sie sich überraschend zeitgemäß, unverjährt im Entwurf, überzeugend in der Schilderung der Konflikte, übrigens auch spannend. Wirklich, man wünscht, dies wäre tatsächlich das aktuelle Buch eines heutigen jungen Autors, auf dessen weitere Werke man sich würde freuen können. Wer aber die modernen Klassiker Frischs wie »Stiller«, »Homo faber« oder »Montauk« noch nicht gelesen haben sollte, hat es freilich besser und ja noch jede Menge hochlohnenden Lesestoff vor sich.

Michael Klein

Christopher Ecker – Das Schild

 

Vor einer Woche wurde an dieser Stelle Christopher Eckers Erzählminiaturen-Band „Andere Häfen“ vorgestellt, und wie dort angekündigt folgt nun diesmal, mit freundlichem Einverständnis des Autors, ein (von mir) ausgewählter Beispieltext aus diesem Buch.

Es ist eine Freude, diesen Text hier präsentieren zu können:

 

DAS SCHILD

Unterwegs zur Buchmesse, als er gerade im Abteil Platz genommen hatte, stellte er fest, dass er keineswegs, wie er die ganze Zeit gedacht hatte, ein Autor war. Er hatte, wurde ihm bewusst, nie ein Buch veröffentlicht. Außerdem hatte er nie eines geschrieben. Ja, begriff er mit einer Belustigung, die ihm unter anderen Umständen Angst gemacht hätte, er hatte nie auch nur eine einzige Zeile geschrieben, die es verdient hätte, „literarisch“ genannt zu werden. Also was mache ich hier?, fragte er sich. Weshalb fahre ich zur Buchmesse? Plötzlich stellte er fest, dass er seinen Namen vergessen hatte. Nachsichtig lächelnd nahm er den Ausweis aus der Brieftasche und starrte ihn lange an. Dann steckte er ihn in die Brieftasche zurück und verstaute diese umständlich in der Jackentasche. Er sah aus dem Fenster. Der Zug stand noch immer im Bahnhof. Warum sollte er denn nicht zur Messe fahren? Und mit diesem Gedanken lehnte er sich behaglich in seinem neuen Leben zurück wie in einem Liegestuhl, aber da erstarrte er: Hatte er die Kaffeemaschine ausgeschaltet? Besaß er überhaupt eine Kaffeemaschine? Wohnte er denn in dieser Stadt, deren Bahnhof er nicht kannte? Und wieso war er sich eigentlich so sicher, dass er zur Buchmesse fuhr? Eine Taube mit verkrüppeltem Fuß hüpfte über den Bahnsteig. Wie kann eine solche Geschichte enden? Warum sollte man so etwas aufschreiben? Wieso es lesen? Wäre er zu Hause, was auch immer das heißen mochte, hätte er die Wohnungstür geöffnet, um auf dem Klingelschild nachzusehen, wer er war.

Christopher Ecker, Andere Häfen, Titel

 

Aus:

Christopher Ecker: Andere Häfen

MDV, gebunden