Aus der Reihe: Die Welt der Zukunft
Arthur Brehmer (Hrsg.): Die Welt in 100 Jahren
Reprint der Ausgabe von 1910; Olms Verlag
Wie ist sie, die Welt, in der wir heute leben? Alle Krankheiten sind passé! Wir leben nicht nur auf festem Land, sondern ebenso in Städten am Meeresgrund und in Wohnkolonien in der Luft! Angriffskriege werden mit verheerenden Zeppelin-Geschwadern geführt! Und das Geheimnis ewiger Jugend ist gelüftet – und wir alle sehen nicht älter aus als 20!
Nanu, ist das etwa nicht so?
Faszinierend ist der Blick auf Zukunftsvorstellungen der Vergangenheit, und insbesondere, wenn diese einst beschriebene Zukunft das darstellen soll, worin wir leben: unsere Gegenwart. 1910 – das war noch die Zeit des Kaiserreichs – erschien in Berlin ein Buch, das sich zur Aufgabe stellte, wissenschaftlich fundiert »Die Welt in 100 Jahren« zu prognostizieren. Zukunftsvorhersagen beziehen sich häufig stark auf technische Entwicklungen, dieses Buch aber verfolgte einen umfassenden Ansatz. Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Kunst, Kultur, Moral und Religion wurden von namhaften Autoren ihrer Zeit auf ihre möglichen Entwicklungen hin untersucht. Dass wir dabei mitunter mehr über das Jahr 1910 als über unsere Gegenwart lesen, liegt in der Natur der Sache, eröffnet aber eine spannende Doppelperspektive.
Zu den Dingen, die realitätsgesättigte Menschen stets erstaunen, gehört die naive Zukunftseuphorie, zu der der sogenannte »Homo sapiens« verblüffenderweise fähig ist und die mitunter von einzelnen Entdeckungen ausgeht. Vor hundert Jahren war das die Entdeckung des Radiums, dem geradezu wundergläubige Wirkungen zugeschrieben wurden: Nicht weniger als Weltfrieden und unanfechtbare Gesundheit versprach man sich vom Einsatz dieses vermeintlichen Tausendsassa-Elements.
Überhaupt herrscht häufig ein jubelnder Optimismus in diesem Buch, den man ebenso beneidenswert wie haarsträubend naiv finden kann: »Die Gegenwart ist ein Zeitalter mechanischer und chemischer Erfindungen, eine Periode materieller Vollendung. Ihr aber wird eine Ära der ethischen und philosophischen Vollendung folgen – kurz eine Reife der geistigen und moralischen Eigenschaften, die zu höchster Blüte gelangen werden.« Die Autoren ahnten nicht, was tatsächlich auf sie zukam: ein finsteres halbes Jahrhundert aus Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise, Faschismus und erneutem Weltkrieg.
Die Lektüre dieses Buchs ist ein prächtiges Vergnügen, gerade weil wir die Prognosen von einst mit den Entwicklungen des letzten Jahrhunderts bereits vergleichen können. Mal staunt der Leser über die Klugheit und Weitsicht mancher Vorhersage, mal freut er sich an den zum Teil kuriosen Absurditäten, denen wir Gottseidank entronnen sind. Durch die neumodische Emanzipation, lautete damals beispielsweise eine besorgte Theorie, würden sich die Frauen den Männern immer mehr angleichen, weshalb ihnen ebenfalls eines Tages Bärte wüchsen.
So herrlich schräg und abseitig sich manches in diesem Buch liest, wer sich die gesellschaftliche, technische und kulturelle Welt von 1910 vor Augen führt, erkennt, dass die Versuche der Autoren, in die Zukunft zu blicken, ernsthaft und überwiegend durchaus durchdacht sind, selbst wenn sie aus heutiger Perspektive zur Erheiterung Anlass geben.
Michael Klein