Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Fjodor M. Dostojewski: Weiße Nächte
Diverse Ausgaben
Nach Joseph Conrads „Freya von den Sieben Inseln“ (1912) und Henry Millers „Daisy Miller“ (1878) gehen wir in der kleinen Reihe über die Liebe in klassisch gewordenen Novellen oder Kurzromanen weitere 30 Jahre zurück. Und wir wechseln zugleich noch einmal den Schauplatz.
Ein heißer Sommer in St. Petersburg 1848. Die Stadt liegt halbverlassen; jeder, der es sich leisten kann, ist in die Sommerfrische abgereist. Ein kontaktscheuer, 26 Jahre alter angehender und erfolgloser Schriftsteller schlendert durch die Straßen, mit den Verhältnissen vertraut, doch ziellos, ungeschäftig, für sich bleibend. An diesem Abend wird er auf eine junge, hübsche Frau aufmerksam, die verloren an einem Kanalufer ins Wasser blickt. Nach langem Zögern spricht er sie an. Beide sind sie verschlossene Menschen, doch sobald sie sich gegenseitig ihre Scheuheit gestanden haben, empfinden sie rasch Zutrauen zueinander. Es scheint ihnen, als würden sie sich schon ewig kennen.
Nastenka – so heißt die junge Frau – erzählt dem jungen Schriftsteller ihren Kummer: Vor einem Jahr hat der Mann, den sie liebt, St. Petersburg verlassen (und gleichzeitig den Kontakt zu ihr abbrechen) müssen; in diesen Tagen – so haben sie es sich versprochen – soll er zurückkehren. Das Kanalufer ist der verabredete Treffpunkt. Wird er kommen?
Jeden Abend wartet Nastenka hier; und mit ihr alsbald der junge Dichter, der aufrichtig Anteil an ihr nimmt. Das Ausmaß dieses Anteils bereitet ihm aber zügig Probleme. Kein Zweifel, er beginnt sich in Nastenka bis über beide Ohren zu verlieben. Und Versuchungen treten an ihn heran: Soll er sich wünschen, dass der Fremde nicht käme? Soll er der manchmal zweifelnden Nastenka raten, nicht länger zu warten? Und als er begreift, dass er zwischen beiden zum Vermittler werden kann – soll er es gegen sein eigenes Interesse tun?
Dostojewskis Erzählung »Weiße Nächte« – die hellen, langen St. Petersburger Sommernächte sind gemeint, und die Lebenssituation des träumerischen, scheuen, jungen Schriftstellers ist der Dostojewskis zu jener Zeit sehr ähnlich – ist eine der unvergänglichen Liebesgeschichten der Weltliteratur und eine ideale Lektüre keineswegs nur für helle, lange Sommernächte. Sie ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, die schöne und unverstaubte Übersetzung von Hermann Röhl aus dem Jahr 1928 gibt es heute gebunden bei Anaconda bereits für 3.95 Euro.
Michael Klein