Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen
Ketil Bjørnstad: Die Frau im Tal
Insel Verlag, gebunden und als Taschenbuch
Das Leben am Grund des Flusses: Eigentlich hat der 19jährige Aksel Vinding, der angehende Klaviervirtuose, der soeben ein glänzendes Debüt hingelegt und am selben Tag seine große, von ihm schwangere Liebe, die depressive Marianne Skoog, durch Freitod verloren hat, die Nase vom Leben voll. Er steigt in jenen Fluss, in dem vor Jahren sich bereits seine Mutter das Leben genommen hat, lässt sich in die Unterströmung gleiten und ist bereits halb hinüber, als er sich schmerzhaft in etwas verfängt und an die Oberfläche gezogen wird. Ein Fischköder hat ihn aufgespießt, und sowohl für den Angler wie für den Sterbewilligen ist die Sache eine ziemliche Überraschung.
So beginnt Ketil Bjørnstads abschließender Teil seiner Aksel-Vinding-Trilogie, der Roman »Die Frau im Tal«. Und wer die beiden Vorgänger »Vindings Spiel« und »Der Fluss« gelesen hat, weiß hinlänglich und überzeugend Bescheid über Aksels Befindlichkeit.
Muss man diese beiden – großartigen – Romane gelesen haben, bevor man den dritten beginnt? Es ist nicht zwangsläufig nötig, aber ratsam. Aus doppeltem Grund: Bjørnstad ist versierter Erzähler genug, alles Wichtige des Vorhergehenden in kurzen, geschickt eingeflochtenen Rückblenden und Andeutungen zu erzählen, doch das Personal kann nicht neu erklärt werden und wer den Roman in allen seinen Tönen und Unterströmungen verstehen will, erhöht seinen Lesegenuss, wenn er mit dem ersten Band der Trilogie beginnt.
Zweitens nähme man sich die Freude, dem Geschehen chronologisch zu folgen – und da Bjørnstads Trilogie eine exzellente und hochlohnende Lektüre ist, wäre das bedauerlich.
Kann man die Handlung von »Die Frau im Tal« anerzählen, ohne allzu viel zu verraten? Nur soviel: Juni 1971 in Oslo, bei Mariannes Beerdigung sieht Aksel deren – in Nordnorwegen lebende – jüngere Schwester Sigrun zum ersten Mal, und verdutzt, zutiefst verwirrt und gleichzeitig im Innersten betört stellt er fest, wie sehr sie Marianne gleicht. Nach seinem glanzvollen Debüt plant Aksels Agent eine große Tournee, doch Aksel will nach dem Schicksalsschlag erst zu sich finden. Statt großer Karriere in Weltstädten entscheidet er sich für die Freiheit. Er will Rachmaninow studieren, an der Grenze zu Russland, in Nordnorwegen, wo Sigrun lebt, die seiner gerade gestorbenen toten Frau so ähnlich sieht.
Bjørnstads Figuren und Motive sind lebenswahr, dicht, vielschichtig und stimmungsvoll entwickelt. Obwohl »Die Frau am Fluss« nicht durchweg das so ungemein hohe Niveau und die volle Intensität seiner beiden Vorgänger zu halten vermag (manche Motive wiederholen sich, manche Nebenfigur bleibt Dekoration, mancher Dialog gerät papieren), folgt der Leser auch dem dritten Teil überwiegend gebannt. Tragisch, Abgrund-reich, auf eine besondere Weise aberwitzig und plausibel zugleich: Bjørnstads Trilogie ist prächtige Literatur! Der Stoff schreit im Übrigen förmlich nach einer (mehrteiligen) Verfilmung.
Michael Klein