Zeichen und Wunder: Mikio Naruse

Während die japanischen Filmregisseure Yasujiro Ozu, Akira Kurosawa und Kenji Mizoguchi bereits in den 50er Jahren schon über die Grenzen Japans hinaus als Filmgrößen wahrgenommen wurden und von internationalen Festivals wichtige Auszeichnungen mit sich nahmen, blieb Mikio Naruse (1905-1969, in japanischer Namensstellung Naruse Mikio) außerhalb Japans weitgehend unbekannt. Angesichts der Qualität seiner Filme ist das ein Rätsel.

Gründe, die in Naruses Persönlichkeit liegen, mögen da auch eine Rolle gespielt haben. Er war ein zurückhaltender, bescheidener, die Öffentlichkeit scheuender Mensch, keiner, der Aufhebens von sich machte oder gerne im Mittelpunkt stand. Er gab so gut wie nie Interviews. Eine grundlegende Ernsthaftigkeit war ihm eigen, mit Glanz, Glamour, Äußerlichkeiten, Marktgeschrei, Rang oder Ruhm konnte er wenig anfangen. Diese Uneitelkeit ist Teil seiner Größe; aber auch einer der möglichen Gründe dafür, dass er weniger wahrgenommen wurde. Wer schillert, ist besser zu sehen.

Mikio Naruse

Der japanische Filmregisseur Mikio Naruse in jungen Jahren

Immerhin: Unter Cineasten gewinnt sein Werk langsam, aber ungebrochen stetig immer mehr Beachtung. Dass Arte am Montag, den 3. August, seinen Film „Midaeru – Sehnsucht“ aus dem Jahr 1964 zeigt (und einen Monat lang, bis zum 31.8., wird er auch noch in der Arte-Mediathek zu sehen sein), sei ein willkommener Anlass, einige Worte über diesen Film zu verlieren.

Japan zu Beginn der 60er Jahre. Supermärkte mit Niedrigpreisen lösen die kleinen Einkaufsläden ab, die moderne Warenwelt befördert die Konsum- und Wohlstandskultur. Die Witwe Reiko (eine Glanzrolle von Hideo Takamine) ist nach dem Tod ihres Mannes im II. Weltkrieg bei dessen Familie geblieben und hat als treibende Kraft und Geschäftsführerin deren zerstörtes Lebensmittelgeschäft wieder aufgebaut. Doch als ein Verwandter den Plan entwickelt, der neuen Konkurrenz zu trotzen, indem man auf dem kundenfreundlich zentral gelegenen Grundstück des alten Ladens einen eigenen neuen Supermarkt errichtet, ist Reiko als vermeintliches Relikt des Alten und überflüssige Funktion im Weg.

 

Mikio Naruses „Sehnsucht“ ist bis zum 31.8. noch in der Arte-Mediathek zu sehen – zur Arte-Seite geht es hier.

 

Halb noch freundlich, halb schon drängend, aber undankbar zur Gänze wird ihr nahegelegt, zu heiraten oder andernorts ein neues Leben zu beginnen. Koji (Yuzo Kayama), der Sohn der Familie, eigentlich ein orientierungsloser, müßiggängerischer und dem Vergnügen verschriebener junger Mann, wehrt sich dagegen. Er hat einen unausgesprochenen emotionalen Grund: Seit langem liebt er Reiko, die Frau seines verstorbenen Bruders. Obwohl ein erheblicher Altersunterschied zwischen den beiden besteht (während Koji erst allmählich erwachsen wird, ist sie bereits eine reife Frau und wird bald dem Alter zugehen), fühlt er sich zu ihr hingezogen, und der Kontrast aus ständiger Nähe und Unerreichbarkeit quält ihn.

Das Spannungsfeld der unterschiedlichen Charaktere Reikos und Kojis, die zugleich für unterschiedliche Generationen und Wertvorstellungen stehen, und der gesellschaftlichen Umbruchsituation in den japanischen Städten lotet Naruse vielschichtig aus. Reiko ist treuer, arbeitsamer Familienmensch in Pflichtgefühl und Verantwortung, sie hält das Andenken an ihren verstorbenen Mann in Ehren (dass sie bei seiner Familie bleibt, findet seinen Grund auch darin, dass diese über seinen Tod hinaus ein Bindeglied zu ihm darstellt) und folgt einem klaren inneren Bezugssystem. Koji hingegen ist innerlich orientierungslos, charmant, aber auch verquer, zudem mitgeprägt als Teil einer jungen Generation, die erstmals in materieller Sicherheit und Wohlstand aufwächst und traditionelle Werte zunehmend in Ungebundenheit, Rebellion und eine Genussfreude auflöst, die freizügig und kurzfristig denkt.

Als Koji Reiko seine Liebe endlich gesteht, geht eine Veränderung in ihm vor, eine innere Anverwandlung ihrer Werte – der Taugenichts übernimmt Verantwortung für den Laden, er demonstriert Reiko, dass ihre Welten besser zueinander passen würden, als sie bisher wahrnehmen konnte. Reiko reißt all dies in einen Zustand der Verwirrung: die Tatsache, dass ihr Koji besser gefällt, als sie bewusst wahrhaben will; die Anzeichen, dass er es wirklich ernst meint, und die Frage, welche Zukunft diese Beziehung hätte; die Frage nach ihren inneren Werten; dazu die plötzliche, drängende wirtschaftliche Herausforderung durch die Supermärkte und die Versuche der sonstigen Verwandtschaft, sie aus der Familie grob hinauszukomplimentieren. Reiko ist zwischen plötzlichem Glück, Vorbehalten und Unsicherheit hin- und hergerissen, und Kojis jugendliches Drängen auf eine Entscheidung setzt ihr zu. Alles stürzt gleichzeitig auf sie ein und überfordert sie, jedenfalls in der Gedrängtheit und für den Moment. Es ist der Beginn einer Tragödie aus Unzeitigkeiten, die stets auf der Grenze zur glücklichen Lösung wandelt.

Furios gelungen ist das komplette letzte Drittel des Films. Von der Familie in die Enge argumentiert und als Flucht vor der eigenen Verwirrung entschließt sich Reiko, zu ihren an einem weit entfernten Ort wohnenden Eltern zurückzukehren. Die lange Bahnreise beginnt, kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, mit einer Überraschung: Koji wird sie begleiten. Er setzt sein Werben um sie fort. Und Mikio Naruse und seine Mitstreiter, allen voran Kameramann Jun Yasumoto und Komponist Ichiro Saito liefern ein grandioses Finale, in dem alle Motivstränge in faszinierenden Bildern, zu der die Schönheit der japanischen Landschaft beiträgt, und einer schlafwandlerisch sicheren, mitreißenden Montage zusammenlaufen.

Michael Klein